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Lange definierte sich die Qualität eines Hotels nach der
Anzahl der Sterne. Dem professionell Reisenden war
wichtig, überall auf der Welt einen gesicherten Standard
zu finden. Denn die Welt war voller Unwägbarkeiten,
das Reisen barg Überraschungen, und wenigstens das
Hotelzimmer wurde so zum Ort der Geborgenheit. Das
Resultat war die internationale Hotelkette, die überall die
Garantie des Gleichen bot – bis zur Bibel in der Schublade
des Nachttisches. Geschäftsmeetings in Mumbai oder
Mali boten schließlich genügend Stressfaktoren. Sichere
Raumblasen simulierten dann des Nachts die Heimat
von Milwaukee oder Manchester. Letztlich war dies die
Globalisierung der Hotellerie auf westlichem Standard und
der architektonische Kulturtransfer als Einbahnstraße. Doch
die Welt hat sich verändert. Reisen ist Routine, und die
Reisenden suchen nicht mehr das Gleiche, sie fahnden nach
dem Speziellen. Zumindest ab einem gewissen Preisniveau
und in einem Teil der Kundschaft wird das Authentische
gesucht, und die Ketten-Hotellerie reagiert darauf.
Geschichtsträchtiger Bau
In Berlin eröffnete Marriott mit dem Hotel am Steinplatz
ein Haus, das ganz bewusst einen anderen Weg geht.
Und in Indien hat sich der Konzern ITC für dieselbe
Methode entschieden. Aus denselben Gründen – jedoch
mit einer ganz anderen Ausgangsbasis und anderen
Mitteln. Das Berliner Hotel ist pure Geschichte. Neben
dem konkurrierenden „Hotel Adlon“ war es zur vorletzten
Jahrhundertwende das erste Haus am Platze, Teil von
Berlins Historie und mit seinen illustren Gästen nicht nur
baulich, sondern auch sozialhistorisch ein Teil der Stadt.
Marriott übernahm damit nicht nur ein Haus, sondern eine
Story. Dass diese Story in Vergessenheit geraten war,
gehörte zu den Herausforderungen. Sie musste nur geho-
ben und neu erzählt werden. Die zweite Herausforderung
war, die funktionalen Ansprüche eines modernen
Luxushotels in einem historischen Gebäude unterzubrin-
gen. Beides gelang dem Berliner Innenarchitekten Tassilo
Bost. Er erzählte die alte Geschichte neu, mit zeitgenös-
sischen Werkstoffen, objekttauglichen Produkten und
einer Fülle von Details, die dem Gast jederzeit das Gefühl
vermitteln, tatsächlich in Berlin zu sein – und eben nicht
in einer anonymen Raumblase. Marriott versammelt diese
neuen Hotels unter dem Label „Autograph“, das dem
Gast die Gewissheit gibt, eben nicht das ewig Gleiche
an allen Plätzen dieser Welt zu finden, sondern etwas
Einzigartiges, etwas, das zudem den Geist des Ortes zu
vermitteln verspricht. Diese Aufgabe wurde in Berlin
hervorragend gelöst – auch dank eines ausreichenden
Rohstoffs an kultureller Identität und ungebrochenem
Genius Loci.
Nationales Selbstbewusstsein
Der indische Milliarden-Mischkonzern ITC wurde als
„Indian Tobacco Company“ gegründet und erweiterte sein
Portfolio unter anderem um den Sektor Luxushotellerie.
Auch ITC weiß, dass das anonyme Kettenhotel bestenfalls
noch im Billigsegment Wachstumschancen hat. Zudem
steigt in Indien das nationale Selbstbewusstsein mindes-
tens analog zur Bevölkerung und zum Bruttosozialprodukt.
„Westliche“ Hotels entsprechen nicht mehr dem neuen
Selbstverständnis, und es gibt sie auch schon in großer
Fülle. ITC gab deshalb die Devise aus, die neue Größe
Indiens in Hotels zu feiern, die den jeweiligen Dynastien
huldigen. Und weil Indien von vielen großen Herrscher-
Kulturen geprägt wurde, gibt es ausreichend kulturellen
Rohstoff, aus dem sich die Architekturen der Luxushäuser
bedienen können.
Monolithische Tempel
Im Süden des Subkontinents herrschten vom 9. bis 13.
Jahrhundert die hinduistischen Chola und entwickelten
eine architektonische Hochkultur. Die Chola widerstan-
den den islamischen Eroberungen und errichteten ein
tamilisches Reich, das bis Ceylon reichte und zu dessen
Einflussgebiet auch Indonesien gehörte. Das ITC-Hotel in
der Regionalhauptstadt Chennai (so nennen die Inder das
frühere, koloniale Madras) heißt deshalb Gran Chola und