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Tektonik, die von der Moderne und Nachmoderne sukzessive
zerstört worden sei. Wenn aber Architekten aus Kollhoffs
Umfeld ihre wohlhabenden Klienten mit neoklassizistischen
Villen nebst veritablen palladianischen Portiken versorgen,
dann steht doch mehr dahinter als nur eine Sehnsucht nach
Tektonik. Dann kommt nämlich Distinktion ins Spiel. Allerorten
sind denn auch in Deutschland „Distinktionsarchitekturen“
entstanden, über die sich freilich (fast) niemand mehr auf-
regt. Sie werden in einer neoliberalen Gesellschaft schon
beinahe als Selbstverständlichkeit aufgenommen. So hat
sich der Verleger Bernd Lunkewitz mitten im Frankfurter Park
Louisa schon 1996 vom prominenten britischen Eklektiker
Quinlan Terry eine neopalladianische Villa nach dem Vorbild
der „Rotonda“ in Vicenza errichten lassen. Verglichen mit
Venturis „Vanna Venturi House“ wirkt diese Frankfurter
„Rotonda“ aber seltsam blass und leblos. Öffentliches
Interesse geweckt hat dieses ganz programmatisch auf
Distinktion und Diskretion bedachte Bauwerk eigentlich erst
jetzt, als es zum Verkauf stand. In Großbritannien regt sich
erst recht niemand mehr über derartige Varianten eines
zeitgenössischen Neoklassizismus auf. So wie man sich aus
Gründen der Distinktion fürs gehobene Wohnen „Stilmöbel“
zulegt, so entscheidet man sich beim Äußeren des Hauses
dezidiert für eine „Stilarchitektur“, welche gleichermaßen
Distinktion wie Diskretion verheißt. Was ist über postmoderne
Spielereien hinaus geblieben? Auf den ersten Blick ein sehr
viel entspannterer Umgang mit historischen Vorbildern und
eine diffuse, manchmal geradezu unheimliche, weil wirk-
lichkeitsferne Sehnsucht nach Rekonstruktion. Geblieben
ist auf den zweiten Blick vor allem die Wiederentdeckung
des Ornaments. Ja sogar die Entdeckung gänzlich neuer
Ornamente. Der kontrovers diskutierte „Parametricism As
Style“, theoretisch unterfüttert von Patrik Schumachers
Schriften, hat die Büchse der Pandora weit geöffnet und
in der Praxis zu einer regelrechten Fülle neuer computer-
generierter Ornamente geführt. Was hierzulande an den
scheinbar liquide in die Landschaft eingegossenen Villen von
Jürgen Mayer H. und verwandt operierender Architekten
unschwer abzulesen ist. Deren Bauten treten mitunter
selbst als monumentale dreidimensionale Ornamente auf,
wobei das Ornament sogar zur konstituierenden statischen
Struktur des jeweiligen Gebäudes werden kann. Mit Hilfe
von 3D-Druckern lassen sich die errechneten Ornamente
inzwischen sogar relativ leicht herstellen. Die formverliebten
Gründerzeitarchitekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts
hätten daran nicht einmal im Traum zu denken gewagt.
Ganz anders verfährt Arno Brandlhuber, der sich gleich-
falls für das Herauspräparieren neuartiger Historizitäten
beim architektonischen „objet trouvé“ und die daraus
resultierenden Konnotationen interessiert. Brandlhuber
kaufte sich eine unansehnliche ehemalige Trikotagenfabrik
aus DDR-Zeiten am Berliner Krampnitzsee, entschied sich
dann aber für deren Erhalt. Im entkernten Altbau ließ er
Freunde neue Fassadenöffnungen schlagen. Das nach dem
Zufallsprinzip aufgeweitete poröse Innere wurde durch ein
Mehrzonensystem energetisch ertüchtigt. Den im Zuge dieser
Radikalkur herausgeschälten Rohbau versah er mit dem typi-
schen DDR-Grauputz. Das neue Flachdach lässt den Regen
über einen monströsen, weit auskragenden Wasserspeier
aus Beton an der Hausecke abfließen. Das Resultat will mit
konventionellen ästhetischen Vorstellungen nichts mehr zu
tun haben. Stattdessen erinnert das Ganze entfernt an Gordon
Matta-Clarks „Cuttings“. Brandlhubers Transformation eines
gesichtslosen Altbaus zu einer zeichenhaften „Antivilla“ stellt
demonstrativ ihre Wunden zur Schau. Durch Wegnahme und
Verletzungen ist unscheinbares Altes verformt, überschrieben
und „alieniert“ worden. Dabei ist vertrautes Altes wiederau-
ferstanden als faszinierende „uncanny architecture“. Daraus
resultiert eine gänzlich neue Art von architektonischem
Realismus. Und dieser positioniert sich meilenweit entfernt
vom Aussehen konventioneller Villenbauten. Mögen Paläste
auch weitgehend verschwunden sein, so sorgen Villen als
deren Miniaturausgaben doch weiterhin für Diskussionsstoff.
An dem, was sie ausdrücken wollen und de facto ausdrü-
cken können, scheiden sich die Geister. Und das ist in einer
Zeit, in der sich unter dem Verdikt des „anything goes“ alle
Widersprüche abzuschleifen beginnen, sicher nicht das
Schlechteste.
Foto: Bergische Universität Wuppertal, DE
Autor: Prof. Dipl.-Ing. Frank R. Werner
wurde 1944 in Worms am Rhein geboren. Er studierte Malerei, Philosophie
und letztlich Architektur an den Universitäten in Mainz, Hannover und
Stuttgart. Es folgte eine universitäre Laufbahn, zunächst als Assistent
und Dozent. Später folgten Professuren, zunächst an der Bergischen
Universität Wuppertal und später an der Staatlichen Akademie der
Bildenden Künste Stuttgart. 1993 folgte er dem Ruf zum ordentlichen
Universitätsprofessor und Leiter des Instituts für Architekturgeschichte
und Architekturtheorie der Bergischen Universität Wuppertal. Dort war
Werner auch Geschäftsführer des Instituts für Umweltgestaltung sowie
Dekan des Fachbereichs Architektur. Als Gastprofessor lehrte er unter
anderem in Los Angeles, Barcelona, Wien, Mendrisio und Mailand. Werner
wurde 2011 emeritiert. In etlichen Ausschüssen, Forschungsverbünden
und anderen Institutionen brachte er sein Fachwissen mit ein. Er ist
Mitglied des Deutschen Werkbundes und Ehrenmitglied des Bundes
Deutscher Architekten. Werner lebt in Schöppingen.
frwerner@uni-wuppertal.de