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Im Oeuvre von Marc Chagall stößt man bald auf eine für
ihn relativ untypische Zeichnung aus dem Jahre 1917. Sie
zeigt einen rot gewandeten stämmigen Bauern, der als
Bolschewik gewandet über seinem grünen Haarschopf das
Modell eines kleinen Palastes oder einer repräsentativen
Villa emporstemmt, um es wütend auf den Boden zu schleu-
dern. Das Blatt trägt den Titel „Friede den Hütten, Krieg den
Palästen!“. Wie für viele andere europäische Revolutionäre
waren Paläste und palastähnliche Villen also kraft ihres
Ausdrucks Symbole der Unterdrückung, Symbole unsozialer
und deshalb gewaltsam zu eliminierender Feudalsysteme.
Ab dem Revolutionsjahr 1918 sind denn auch bis in die
Gegenwart hinein nur noch sporadisch Paläste entstanden,
unter ihnen allerdings so monströse Gebilde wie Hitlers
verschwundene Neue Reichskanzlei in Berlin (1934-1943),
Ceausescus Parlamentspalast in Bukarest (1983-1989) oder
Erdogans Präsidentschaftspalast in Ankara (2011-2014). Die
Presse hat die beiden letzten als „Wahnsinnspalast“ und
„Protzpalast“ abgekanzelt. Paläste tragen also noch immer
das Stigma versteinerter Überheblichkeit und Unterdrückung.
Im Windschatten derartiger Stigmatisierungen haben
Villen als Miniaturpaläste jedoch alle Umbrüche und
Paradigmenwechsel nahezu schadlos überstanden. Unter
dem Vorwand sozialrevolutionärer Beweggründe hatte bereits
das Bauhaus den Bautyp Villa zwar nolens volens abgelehnt.
Aber wie die Ironie des Schicksals es so will, kamen und
kommen viele Vorzeigebauten der klassischen Moderne in
Wirklichkeit als puristische, gleichwohl in Luxus schwelgende
Villenkomplexe daher. Deshalb erfreuen sich Villen jedweder
Provenienz heute mehr denn je höchster Wertschätzung.
Die eigentliche Renaissance der Villa als „Palais en mini-
ature“ und ihre damit einhergehende Neubewertung als
Ausdrucksträger setzte allerdings erst im letzten Drittel des
vergangenen Jahrhunderts ein. Ursache war der globale
kurzlebige Siegeszug der Postmoderne. In Deutschland waren
es eher triviale bis provinzielle Varianten, die sich breitmach-
ten. Dekorative, harmlos verspielte Varianten, gegen die
Robert Venturis „Urhütte der Postmoderne“, das derzeit zum
Verkauf stehende „Vanna Venturi House“ in Philadelphia
(1964), fast wie ein neusachlicher Prototyp wirkt. Schon Jahre
vor dem Durchbruch der Postmoderne entstanden, verstößt
dieser palastähnliche „dekorierte Schuppen“ gegen alle
Regeln des guten Geschmacks und der guten Konstruktion.
Eine überbreit vorgeblendete, monumentale Giebelwand mit
mittigem Zugang, angedeutetem Portalbogen, gesprengtem
Giebel und zurückfluchtendem Mittelrisalit täuscht eine große
Gebäudetiefe, zumindest aber ein voluminöses räumliches
Dahinter vor. Ein Blick von der Seite entlarvt das Ganze
jedoch als Fake, denn hinter dem theatralischen Giebel ver-
birgt sich ein ordinäres, schachtelartiges Häuschen von nur
wenigen Metern Tiefe. Im Inneren setzt sich das Spiel von
„Complexity and Contradiction“ fort. Da stieß Venturis alte
Mutter beim Eintreten in ihr Haus mit dem Kopf vor die Wand,
weil sich das Schlupfloch des eigentlichen Eingangs seitlich
vom Entrée verbirgt. Beim Weg ins Obergeschoss verengen
sich die aufsteigenden Stufen dergestalt, dass der Aufgang
eigentlich unpassierbar ist. Und droben gibt’s dann noch
eine Treppe, die sogar ins Nichts führt. Venturi unterzieht
bei diesem Bau, der vorgibt, ein Palast zu sein, tatsächlich
aber nur ein „dekorierter Schuppen“ ist, alle Regeln der
klassischen Baukunst einer kritischen Revision. Was so spie-
lerisch, ja dilettantisch daherkommt, ist realiter ein höchst
ernst zu nehmender Versuch, die Ausdrucksfähigkeit von
Repräsentationsarchitektur, von allen Restriktionen befreit,
auf das simple hölzerne amerikanische Wohnhaus herun-
terzubrechen. Ein gutes Jahrzehnt vor der Proklamation der
Postmoderne und ihren ersten Bauten entstanden, hat dieser
bereits über fünfzig Jahre alte Prototyp einer ironisch infrage
gestellten Palast- oder Villenarchitektur nichts an provokan-
ter Frische eingebüßt. Heute hingegen ist die postmoderne
Architektur schon weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine
handverlesene Schar von Architekten sucht heute allerdings
nach wie vor ihr Heil in der Rückversicherung bei den „unum-
stößlichen“ Fundamenten der Architekturgeschichte. Diese
Gruppe operiert freilich jenseits ironischer Implikationen. So
propagiert der Ungers-Schüler Hans Kollhoff, lange Zeit als
kluger, einflussreicher Lehrer an der ETH Zürich tätig, schon
seit Jahren in Theorie und Praxis eine Renaissance jener
REPRÄSENTATIVE ARCHITEKTUR ZWISCHEN
DISTINKTION UND GESELLSCHAFTLICHEM
REALISMUS
Ceausescus Parlamentspalast in Bukarest gilt nach dem Pentagon bei
Washington als das zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Welt. (vorherige
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Robert Venturi prägte den Begriff des dekorativen Schuppens. Seine
„Urhütte der Postmoderne“ ist das „Vanna Venturi House“ in Philadelphia
(1964), bei dem Verpackung und Inhalt nicht viel miteinander gemeinsam
haben. (folgende Seite oben und unten)
Foto: Octavian Floren Babusi, iStock / m-louis, Flickr CC BY-SA 2.0